Ist das Lernen von Grammatikregeln der einzige Weg, eine Sprache zu meistern?
Viele Menschen sagen, dass sie Grammatik hassen – zu viele Präpositionen, Zeitformen, Verben und komplizierte, verwirrende Ausnahmen, die den Spaß am Lernen verderben. Gleichzeitig sind sie der Überzeugung, dass man um die Grammatik nicht herumkommt. Man muss die ‚Regeln’ – das ‚Warum’ der Sprache – kennen, sonst wird man die Sprache nie richtig lernen.
Weil diese und andere Überzeugungen viele Menschen davon abhalten, Englisch (oder andere Sprachen) zu lernen, ist es sinnvoll, sie zu hinterfragen:
Überzeugung 1: Grammatik ist die unverzichtbare Anleitung der Sprache
Wenn Sie eine Videokamera benutzen, ist eine Anleitung hilfreich, um die Handhabung der Kamera zu erlernen. Aber wenn Sie schöne Filme drehen möchten, gilt es, auszuprobieren und zu experimentieren.
Eine Sprache ist nicht bloß eine Sammlung von Regeln, deren Erlernen automatisch zum Erfolg führt. Die Grammatikregeln sind lediglich der Versuch, die Struktur der Sprache zu beschreiben – eine Beschreibung, die nie 100% vollständig und umfassend sein kann. Außerdem ist Kommunikation mehr als die Summe der Wörter, die verwendet werden, um eine Botschaft mitzuteilen. Die Grammatik kann z.B. kulturelle Aspekte des Sprachgebrauchs nicht beschreiben. Ein tiefes Verständnis der Grammatik bedeutet deshalb nicht automatisch, dass man besser kommunizieren kann.
Überzeugung 2: Die Grammatik enthält klare Regeln, die befolgt werden müssen
Vielleicht haben Sie den Titel dieses Artikels gelesen und gedacht: „Das kann kein korrektes Englisch sein“. Und Sie haben teilweise Recht. In diesem Fall handelt es sich um eine bestimmte Art von Dialekt – den sogenannten „Black Vernacular“ – der in vielen Städten der USA gebräuchlich ist. Dieser Dialekt hat seine eigenen Grammatikregeln, die sich wesentlich vom Standardenglisch unterscheiden und als ‚falsch‘ betrachtet werden könnten. Aber kann man einen Dialekt überhaupt als ‚falsch‘ betrachten?
Oft ist es nicht eine Frage von richtig oder falsch, sondern von wo, wie und wann unterschiedliche Ausdrucksformen verwendet werden. Der bewusste Regelbruch ist auch ein unverzichtbarer Bestandteil des kulturellen Gebrauchs einer Sprache!
Überzeugung 3: Man muss immer wissen, warum etwas so ist

Der Engländer sagt: “I am working on the weekend” und nicht „to the weekend“ oder „of the weekend“. In einem Grammatikbuch finden Sie eine Erklärung der Verwendung von „on“, „to“ und „of“ – allerdings ist die Erklärung weniger hilfreich als zu akzeptieren, dass es „einfach so“ ist. In meiner Erfahrung machen viele Erklärungen erst dann Sinn, wenn ich den Stoff bereits verinnerlicht habe. Eine Erklärung brauche ich jedoch nicht mehr!
Sie haben Ihre Muttersprache erfolgreich gelernt, obwohl Sie die deutsche Grammatik (meist) nie bewusst gelernt haben. Stattdessen haben Sie die richtige Ausdrucksform kontext- und situationsabhängig gelernt und angewandt. Das ‚Was’ und nicht das ‚Warum’ war damals entscheidender.
Wenn eine Erklärung wirklich hilfreich ist und einen ‚Aha-Effekt’ auslöst, dann gibt es nichts dagegen einzuwenden. Allerdings sollte der Fokus nicht immer auf dem ‚Warum’ liegen.
Warum – Nur ein Teil des Ganzen
Das ‚Warum’ ist nur ein Teil des Ganzen, genauso wie ein Rechteck nur ein Teil eines Quadrats ist. Statt nach dem Warum zu fragen, kann man auch:
- die Sprachen vergleichen – die Unterschiede kennen lernen. Beispiel: „Ich hätte es früher sagen sollen“, auf Englisch: „I should have said earlier“ (wortwörtlich übersetzt: „Ich sollte haben gesagt früher“). Komplett anders, oder?
- Gemeinsamkeiten aufspüren – wann die ‚Regeln’ der Muttersprache und der Zielsprache gleich sind. Beispiel: „Ich habe ein Auto“ und „I have a car“. 1:1 übersetzbar.
Vergleichen und Gemeinsamkeiten finden
Beispiel: Sie möchten wissen, wann man im Englischen „the“, „a“ oder gar keinen Artikel benutzt. Leider gibt es allein für diese Thematik 25 verschiedene Regeln, die man verinnerlichen muss.
Statt einer langen Erklärung habe ich für Sie ein Blatt mit Beispielsätzen auf Englisch vorbereitet. Die Aufgabe besteht darin, die Verwendung von „a„, „the“ oder keinem Artikel (X) in den englischen Sätzen mit der deutschen Sprache zu vergleichen. Welche Sätze sind im Deutschen gleich? Welche nicht? Am Schluss bleiben nur die Ausnahmen, die gelernt werden müssen.
Anhand der Liste können Sie feststellen, dass es nur eine kleine, überschaubare Anzahl von Situationen gibt, in denen sich die englischen Regeln von den deutschen Regeln unterscheiden.
Wie hilft uns der Sprachvergleich beim Sprachenlernen?
- Durch den Sprachvergleich der Muttersprache mit der Zielsprache werden die strukturellen Unterschiede deutlich.
- Das Gespür für die strukturellen Unterschiede zwischen Ziel- und Muttersprache ist die Vorstufe des sogenannten Sprachgefühls. Lernen Sie nicht die Regel – die Beschreibung des „Tricks“ -, sondern gleich den „Trick“ selbst.
Wenn Ihnen der Name „Vera Birkenbihl“ bekannt vorkommt, dann wissen Sie, dass sie eine eigene Methode auf Basis der des Vergleichens entwickelt hat. Vielleicht benutzen Sie diese bereits entweder bewusst oder unbewusst. Sie müssen nicht gleich eine neue Methode lernen (obwohl die Birkenbihl-Methode auch sehr hilfreich ist). Sie müssen nur die Sprache auf Ihre Art und Weise verinnerlichen. Dabei stellt die Vergleichsmethode ein weiteres Werkzeug dar.
Viel Spaß dabei.